Von Oldtimern,Betäubungsspritzen & echten Freunden

Das Sonnenlicht glitzert auf der Wasseroberfläche. Die Sonne steht bereits tief am Horizont. In ein paar Stunden wird es dunkel sein. Es ist so schön ruhig und friedlich hier. Wir haben am vergangenen Abend an einer recht großen Insel nah der Grenze zu Norwegen angelegt. Hin und wieder höre ich Sophie neben mir fluchen. Sie versucht ein Buttermesser zu schnitzen, aber die Spitze ist zu dünn geworden und abgebrochen. Ich begutachte meinen Esslöffel. Er sieht eher wie ein missratener Teelöffel aus. In der Ferne kann ich die beiden Jungs erkennen. „Sie haben noch immer keinen Hecht gefangen“, sage ich und kann mir ein Schmunzeln nicht verkneifen. Ich weiß, dass Sophie auch froh darüber ist. Schließlich sind wir Vegetarier.
„Ja so viel zum Thema enormes Hechtvorkommen“, sagt sie, „eher enorm KLEINES Vorkommen.“ Sie lacht und Ihre schwarzen Dreadlocks wippen auf und ab.
Ich muss ebenfalls lachen und ziehe meine Schnitzhandschuhe aus, um den Löffel besser greifen zu können.
„Ich glaube, sie kommen zurück“, meint Sophie nach einer Weile. Ich hebe meinen Blick vom Löffel und im gleichen Augenblick spüre ich, wie mir ein stechender Schmerz in den Daumen fährt. Ich höre Sophie neben mir laut keuchen und blicke auf meine linke Hand hinab. Das kleine gebogene Schnitzmesser hat eine große klaffende Wunde an meinem Daumen hinterlassen. Weiter oben neben dem Nagel hängt die Haut ebenfalls in Fetzen. Sophie schnappt sich einen der Handschuhe und presst ihn auf meinen Daumen. Fast zeitgleich legen die Jungs am Ufer an und rennen zu uns rüber.
„Was ist passiert?“, höre ich meinen Freund Marc-Christian erschrocken fragen.
„Nadia hat sich geschnitten. Haben wir Pflaster? Verbandszeug? Philipp?“
„Ich glaube nicht“, sagt Philipp.
„Wir haben ein paar Pflaster in der roten Tasche“, sage ich. Mein Freund läuft los, um das Verbandzeig zu holen.
Zeitgleich kommt unser Inselnachbar herüber. Er belegt mit seinen drei Kindern den DANO Platz.
„Darf ich mal sehen?“, fragt er und setzt sich neben mich. Er hat ein wettergegerbtes Gesicht. „Das muss genäht werden.“
„Bist du dir sicher?“, frage ich.
„Ja, glaub mir. Ich bin bei der Bundeswehr. Ich mache dort jedes zweite Jahr einen Erste-Hilfe-Kurs. Du musst zu einem Arzt“.
Ich schlucke. Na toll.
Etwa eine halbe Stunde später sitzen Marc-Christian, Philipp und ich in unserem Kanu und paddeln zur nächstgelegenen Straße. Wobei „wir paddeln“ übertrieben ist. Ich LASSE mich von den beiden paddeln und halte dabei meine Hand nach oben, um den Blutfluss zu stoppen. Wären wir nicht in der Einsamkeit Schwedens unterwegs, sondern auf der Themse in London, so könnte ich mich glatt wie Queen Elisabeth II fühlen. Es dämmert mittlerweile und die See ist so ruhig wie eine spiegelglatte Oberfläche. Nach ungefähr 40 Minuten erreichen wird das Festland und einen Zugang zur Straße. Ich habe ein bisschen Mitleid mit den beiden jungen Männern, die mich transportieren mussten. Vielleicht hätte ich keinen extra großen Nachschlag von der köstlichen Erbsensuppe am Vortag nehmen sollen?, frage ich mich. Aufgrund von Philipps überragenden Kochkünsten haben wir in dem gesamten Urlaub so gut gegessen, dass ich gefühlt das Doppelte wiege.
„Ich fahre dann jetzt zurück zur Insel. Sophie wartet sicherlich schon. Meldet euch bei mir, wenn ihr beim Arzt seid, ok?“, sagt Philipp und macht sich auf den Rückweg.
Marc-Christian und ich begeben uns derweilen auf den Weg zum verabredeten Treffpunkt. Der Krankenwagen soll uns in Båstnäs abholen. Wir laufen über einen schmalen Weg durch einen Kiefernwald. In einiger Entfernung kann ich die ersten Oldtimer ausfindig machen. In Båstnäs, etwa 20 km von der kleinen schwedischen Stadt Töcksfors entfernt und nur über einen humpeligen Schotterweg erreichbar, schlummern mehrere hundert alte Autos im Wald. Dahinter ist Niemandsland. Die fast menschenleere Grenze zu Norwegen ist nicht weit. Die Natur hat sich längst einen Teil des ehemaligen Autohandels zurückerobert. Wir sind am Vormittag bereits auf dem Autofriedhof gewesen, um Fotos zu machen. Ich war direkt fasziniert von der Schönheit des Verfalls. Ich kann ein bisschen nachvollziehen, wie sich Christopher McCandless gefühlt haben muss, als er in der Wildnis Alaskas plötzlich einen Bus des öffentlichen Nahverkehrs der Stadt Fairbanks gefunden hat. Nur, dass wir wussten, was uns erwartet.
Als wir unseren Treffpunkt erreicht haben, ist das Sonnenlicht nur noch sehr schwach. Die Dämmerung hat ihre Schatten bereits über den Wald gelegt. Die Gegend ist so menschenleer und ursprünglich. Und in ihrer Einsamkeit einfach wunderschön, denke ich.
Plötzlich klingelt Marc-Christians Handy.
„Hello?“… „We are in Båstnäs“… „No sorry, I can´t see any ambulance?“… „Yes, here are a lot of old cars“… „Oh…okay, thank you“.
„Was ist los?“, frage ich aufgeregt, da ich nicht hören konnte, was sein Gesprächspartner gesagt hat.
„Der Krankenwagen steht in Bastnäs. Wir sind in Båstnäs. Scheinbar gibt es den Ort zweimal an diesem See. Und der Krankenwagen ist an dem falschen Ort. Vermutlich kannten sie das Wort „Car Graveyard nicht. Es kann also noch eine Weile dauern, bis der Krankenwagen hier ist“, sagt er tonlos.
Ich nehme ihn in den Arm.
„Danke, dass du da bist“, sage ich und bin in diesem Moment unendlich dankbar. Dankbar darüber, so gute Freunde zu haben.
Es dauert auch gar nicht so lange, bis wir das ersehnte Geräusch von Reifen auf Schotter hören. Mittlerweile ist es fast komplett dunkel. Aus dem Auto steigen ein Mann und eine Frau aus. Der Mann begutachtet meine Hand und bestätigt die Einschätzung unseres Inselnachbarn. Die Wunde muss genäht werden.
„We´ll take you to the next hospital“, sagt er. Genauso wie ihn habe ich mir den typischen Schweden vorgestellt. Blondes kurzes Haar, blaue Augen und ein schelmisches Grinsen. Er ist mir direkt sympathisch.
„ And where ist he next hospital?“, frage ich zurück.
„It is in Arvika“, gibt er zurück.
„Arvika?“
„About 100 km from here“, sagt nun die Frau.
„100 km?“, frage ich geschockt.
„Yes. You are literally in the middle of nowhere. It takes about 1,5 hours to drive to Arvika“, sagt sie, zuckt mit den Schultern und setzt sich hinters Steuer.
Ich bin ein wenig sprachlos.
Die Autofahrt ist allerdings recht angenehm. Ich wollte schon immer einmal wissen, wie es ist, mit einem Krankenwagen zu fahren. Die Liege ist bequem. Ich bin allerdings viel zu aufgeregt, um müde zu werden. Wenn ich einen Blick zu Marc-Christian werfe, sehe ich wie sein Gesicht immer grüner wird. Er muss rückwärtsfahren, verträgt dies jedoch nicht.
Wir scherzen immer darüber, dass er eine Superkraft hat. Er kann immer und überall einschlafen. Zum Glück auch bei dieser Krankenwagenfahrt. Ich bin froh darüber, als ihm irgendwann die Augen zufallen und er in einen seichten Schlaf gleitet.
Nach gut 1,5 Stunden erreichen wir schließlich das Krankenhaus und meine Wunde wird gereinigt und genäht. Eine besorgte Krankenschwester erkundigt sich, wo wir die Nacht verbringen werden. Mittlerweile ist es nach Mitternacht und Marc-Christian und ich sind unglaublich müde. Als wir ihr antworten, dass wir das noch nicht wissen, ruft sie uns ein Taxi und weist den Fahrer an, uns in das nächstgelegene Hostel zu bringen. Und so liegen wir nach vier Tagen zum ersten Mal wieder in einem richtigen Bett. Als Marc-Christian langsam neben mir einschläft und ich sein leises Schnarchen höre, denke ich an Philipp und Sophie, die auf unserer kleinen Insel geblieben sind. Die Insel, die für die nächsten Tage unser Zuhause sein wird. Mit ihren unzähligen Kiefernbäumen, Blaubeeren und Weidekraut, hätte ich an keinen schöneren Ort denken können. Ein bisschen vermisste ich in diesem Augenblick unser kuscheliges Zelt und das Geräusch des Windes in der Nacht. Ich musste sogar an die beiden Eichhörnchen denken, die auf dem Weg zu dem Klohäuschen auf einer Kiefer am Wegesrand wohnen und immer panisch den Baum hoch sprinten, wenn man sich Ihnen nähert. Aber ein Gedanke ist so stark, dass er alle anderen aus meinem Kopf vertreibt: Ich habe die besten Freunde, die man sich wünschen kann. Und mit einem Lächeln im Gesicht voller Dankbarkeit schlafe ich ein.

Geschrieben im Oktober 2020, Nadia V.

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